HERZ 26: 161 - 165, 2001

2. Bericht über die Mengenzunahme diagnostischer und interventioneller Herzkatheter im krankenhausärztlichen und vertragsärztlichen Bereich in Deutschland 1990-1999

S. Silber


Herzkatheterlabor der Kardiologischen Gemeinschaftspraxis in der Klinik Dr. Müller, München


Trotz zahlreicher Ermahnungen wegen des "unkontrollierten Wildwuchses" und Stellungnahmen zur vermeintlichen Überversorgung an kardiologischer Invasivdiagnostik bzw. Invasivtherapie [1, 2, 6, 8, 10, 12] haben sowohl die Zahlen der diagnostischen Linksherzkatheteruntersuchungen (LHK) als auch die der Koronarinterventionen (PTCA) in Deutschland weiter zugenommen [7, 21]. Im Vergleich zu 1997 ist 1999 sowohl die Anzahl der LHK um 82786 auf 561623 als auch die der PTCA um 30207 auf 166132 gestiegen (Abbildungen 1a und 2a). Allerdings hat die Anzahl der LHK pro Institution um 158 und die der PTCA pro Institution um 56 abgenommen [21]. In diesem Zeitraum ist sowohl die Anzahl der LHK-durchführenden Krankenhäuser um 59 auf 315 als auch die der "Katheterpraxen" um 42 auf 109 gestiegen (Abbildung 1b). Die Anzahl der PTCA-durchführenden Krankenhäuser hat im gleichen Zeitraum um 67 auf 278 und die der "PTCA-Praxen" um 26 auf 69 zugenommen (Abbildung 2b). Im Vergleich zur letzten Analyse hinsichtlich krankenhausärztlicher und vertragsärztlicher Leistungen [23] zeigt sich, dass der Rückgang an LHK pro Institution im vertragsärztlichen Bereich mit 378 deutlich stärker ausgeprägt war als im Krankenhaus mit 68. Das Gleiche gilt auch für die PTCA mit einem Rückgang von 111 pro Praxis vs. 35 pro Krankenhaus. 1999 wurden 18% aller LHK in Deutschland in Katheterpraxen durchgeführt, der Anteil von LHK-durchführenden Praxen an allen Katheterinstitutionen betrug 26%. Somit wurden im niedergelassenen Bereich im Vergleich zur Anzahl der Katheterpraxen relativ weniger (8%) LHK durchgeführt (Abbildung 1c). Ähnliches gilt auch für die PTCA: 1999 wurden lediglich 15% der PTCA im vertragsärztlichen Bereich durchgeführt, der aber 20% aller PTCA-durchführenden Institutionen ausmachte (Abbildung 2c). Somit wurden im niedergelassenen Bereich im Vergleich zur Anzahl der PTCA-durchführenden Praxen relativ weniger (5%) PTCA durchgeführt (Abbildung 2c). Dieser relativ rückläufige Trend im niedergelassenen Bereich ist bei LHK schon seit 1994 kontinuierlich zu beobachten: Während in den Jahren 1990 bis 1993 überproportional viele LHK in den Katheterpraxen durchgeführt wurden, nimmt seit 1994 die Anzahl von LHK pro Praxis kontinuierlich ab (untere Kurve in Abbildung 1c). Das Gleiche gilt für die PTCA, allerdings mit negativen Zahlen erst seit 1997 (untere Kurve in Abbildung 2c). Somit ist festzustellen, dass die steigende Anzahl der Katheterpraxen nicht zu einer proportionalen Leistungssteigerung geführt hat, sondern die Anzahl von LHK und PTCA pro Praxis kontinuierlich zurückgegangen ist.


Dieser Rückgang könnte verschiedene Ursachen haben:

1. Mehr Katheterpraxen mit geringen Fallzahlen?


Eine mögliche Erklärung bestünde darin, dass in den neu hinzugekommenen Praxen weniger Katheter gemacht werden, sodass ­ statistisch gesehen ­ der Durchschnitt pro Praxis sinkt. Exakte und vollständige Daten zur Anzahl von LHK und PTCA pro Institution liegen aber weder für den krankenhausärztlichen noch für den vertragsärztlichen Bereich vor [15, 21, 24, 25]. Dies ist umso wichtiger, als die Anzahl der Untersuchungen mit dem Ergebnis korreliert, d.h. die Erfolgsrate in den Institutionen mit größerer Fallzahl höher und die Komplikationsrate niedriger liegen [9, 17, 25]. Im vertragsärztlichen Bereich wurden bereits die Konsequenzen gezogen: seit dem 1.10.1999 haben sich die niedergelassenen Invasivkardiologen strenge Maßstäbe auferlegt: Für die kassenärztliche Zulassung zur Invasivkardiologie gibt es eine "Führerscheinregelung" mit 1000 LHK innerhalb der letzten 4 Jahre und 300 PTCA innerhalb der letzten 3 Jahre [27]. Für den Erhalt der Zulassung gilt dann eine "Pilotenscheinregelung" mit kontinuierlichem Nachweis von mindestens 150 LHK und mindestens 50 PTCA pro Jahr [27]. Andererseits soll nicht verschwiegen werden, dass eine neuere Untersuchung die enge Beziehung zwischen Komplikationsrate und Anzahl der pro Operator durchgeführten PTCA wieder in Frage stellte [20]. Im Krankenhausbereich ist seit dem 1.1.2000 ebenfalls eine Qualitätssicherung ­ jedoch ohne Fallzahlregelungen ­ vorgeschrieben [26].

2. Strengere Indikationsstellung?

Möglicherweise führte die zum 1.1.1996 in den vertragsärztlichen Bereich eingeführte Abrechenbarkeit der Stressechokardiographie zu einer strengeren Indikationsstellung für LHK bei der Erstdiagnostik und bei Kontrollangiographien. Allerdings besteht in der Indikationsstellung nicht selten keine oder eine nur geringe Übereinstimmung, obwohl die Indikationen zu LHK und PTCA in zahlreichen Richtlinien bzw. Leitlinien festgelegt sind, [19, 25]. Ein Beispiel hierfür bietet die Frage der routinemäßigen Kontrollangiographie nach PTCA insbesondere nach Stentimplantation: Während die Deutschen Richtlinien dieses Vorgehen nicht unterstützen [11], gibt es Daten aus Deutschland, denen zufolge die 6 Monate nach einer Koronarintervention routinemäßig ­ d.h. ohne Ischämienachweis ­ durchgeführte Kontrollangiographie mit einer signifikant niedrigeren 10-Jahres-Mortalität einhergeht [22]. Möglicherweise spielt auch die im niedergelassenen Bereich 1996 eingeführte Qualitätssicherung mit externem Monitoring eine Rolle [24, 25]. Eine weitere Ursache könnte der gerade im niedergelassenen Bereich spürbare, zunehmende Wunsch der Patienten nach "schonenderen" Verfahren als "Katheterersatz" darstellen.

3. Fehlende finanzielle Anreize?

Mit der für die niedergelassenen Invasivkardiologen zum 1. 4. 1999 vorgezogenen EBM-Reform wurde ein völlig neues Vergütungskonzept eingeführt: das "Leistungskomplexhonorar". Der LHK wurde in einer einzigen Ziffer zusammengezogen und ist mit seinen 10000 Punkten nur noch 1-mal pro Quartal abrechenbar. Wird also z.B. ein Patient im Januar kathetert, wird die ärztliche Leistung aller Folgekatheter bis zum 31. März nicht mehr vergütet. Hinzu kommt, dass im gleichen Quartal ein LHK im Anschluss an eine Myokardszintigraphie überhaupt nicht vergütet wird. In Kombination mit der im Vergleich zur krankenhausärztlichen Versorgung erheblichen Absenkung der Materialpauschalen [25] wurde versucht, jeglichen finanziellen "Anreiz" (zumindest für Patienten mit gesetzlicher Krankenversicherung) aus dem "System" zu nehmen.

4. Wer definiert den wahren Katheterbedarf?

Die z. T. heftige Kritik an einer Überversorgung im Bereich der Invasivkardiologie [8, 10, 12] entbehrt einer sachlichen Begründung. Im Gegenteil, es konnte sogar eine inverse Beziehung zwischen Anzahl der LHK und kardiovaskulärer Mortalität aufgestellt werden [3]. Eine rationelle Analyse dieser Frage setzt voraus, dass zunächst aufgrund wissenschaftlicher Daten der Bedarf geprüft und mit der aktuellen ärztlichen Versorgung in Deutschland verglichen wird [13]. Eine kürzlich durchgeführte Analyse ergab, dass die aufgrund der neuesten Datenlage wichtige invasive Versorgung von Patienten mit akutem Koronarsyndrom derzeit in Deutschland nicht genügend genutzt wird [4]. Der prozentuale Anteil der Koronarangiographien in Deutschland, aus denen sich interventionelle oder operative Konsequenzen ergeben, ist mit denen in anderen Ländern vergleichbar [4]. Kurze Wartezeiten für LHK garantieren, dass Reglementierungsalgorithmen zur Bestimmung der Dringlichkeit eines LHK gar nicht erst eingeführt werden müssen [14]. Eine Unterversorgung mit Revaskularisationsmaßnahmen gefährdet die Patienten [15]: In Großbritannien wurden 26% der Patienten, bei denen eindeutig eine PTCA-Indikation gegeben war, konservativ behandelt; dies hatte eine Verschlechterung des klinischen Verlaufs zur Folge [15]. Letztendlich soll bei der "Bedarfsberechnung" nicht vergessen werden, dass die Überlebensrate nicht der einzige Maßstab sein darf. Mindestens genauso wichtig ist die Lebensqualität der Patienten, deren Quantifizierung und wissenschaftliche Analyse aber ein komplexes Unterfangen darstellen [5, 18].

Literatur:

1. Aumiller J. Alarmierende Jahresleistung: fast 500000 Linksherzkatheter. Cardio News 1999;1:1­3.

2. Bräutigam HH, Koch Ch: Das große Wettrüsten. Stern 1999;20: 182­5.

3. Breithardt G. Wildwuchs nicht bewiesen. Dt Ärzteblatt 2000;97: A-147.

4. Breithardt G, Kerber S, Fleck E, Steinbeck G, Hanrath P, Arnold G, Gottwik M, Senges J, Sonntag F. Stellungnahme der Deutschen Gesellschaft für Kardiologie ­ Herz- und Kreislaufforschung (DGK) für die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen zu "Über-, Unter- und Fehlversorgung im Rahmen der Gesetzlichen Krankenversicherung", 2000.

5. Bradley C. Importance of differentiating health status from quality of life. The Lancet, 2001;357:7­8.

6. Bruckenberger E. Herzbericht 1998, 11. Bericht des Krankenhausausschusses der Arbeitsgemeinschaft der obersten Landesgesundheitsbehörden der Länder (AOLG), ehem. AGLMB). Niedersächsisches Sozialministerium.

7. Bruckenberger E. Herzbericht 1999. 12. Bericht des Krankenhausausschusses der Arbeitsgemeinschaft der obersten Landesgesundheitsbehörden der Länder (AOLG). Niedersächsisches Sozialministerium.

8. Bühring P. Versorgungsforschung forcieren. Dt Ärzteblatt 2000; 97:A1281­2.

9. Canto JG, Every NR, Magid DJ, Rogers WJ, Malmgren JA, Frederick PD, French WJ. Tiefenbrunn AJ, Misra VK, Kiefe CI, Barron HV. The volume of primary angioplasty procedures and survival after acute myocardial infarction. N Engl J Med 2000;342:1573­80.

10. Clade H: Seit Jahren Wildwuchs. Deutsches Ärzteblatt 1999;96: A-470­3.

11. Erbel R, Engel HJ, Kübler W, et al. Richtlinien der interventionellen Koronartherapie. Z Kardiol 1997; 86: 1040­63.

12. Fischer A: Warum wir die Struktur der gesundheitlichen Versorgung verändern müssen. Eckpunktepapier des Bundesministeriums für Gesundheit Bonn, 8. März 1999.

13. Hanrath P. Die ärztliche Versorgung der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung des Schwerpunktfaches Kardiologie. Dtsch Med Wochenschr.1999;124: 1114­16.

14. Hemingway H, Crook AM, Feder G, Dawson JR, Timmis A. Waiting for coronary angiography: is there a clinically ordered queue? The Lancet 2000;355:985­6.

15. Hemingway H, Crook AM, Feder G, Banerjee S, Dawson JR, Magee P, Philpott S, Sanders J, Wood A, Timmis AD. Underuse of coronary revascularization procedures in patients considered appropriate candidates for revascularization. N Engl J Med 2001; 344: 645­54.

16. Herholz H. Diagnostischer Overkill in der invasiven Kardiologie? Stand der Qualitätsicherung in der Kardiologie im Bereich der KV Hessen. Herz 2000;25:62­4.

17. Kastrati A, Neumann F-J, Schömig A. Operator volume and outcome of patients undergoing coronary stent placement. J Am Coll Cardiol 1998;32:970­6.

18. Krumholz HM et al: Measuring and improving quality of care. A report from the American Heart Association/American College of Cardiology First Scientific Forum on Assessment of Healthcare Quality in Cardiovascular Disease and Stroke. Circulation 2000; 101:1483­93.

19. Leape LL, Park RE, Bashore TM, Harrison JK, Davidson CJ, Brook RH. Effect of variability in the interpretation of coronary angiograms on the appropriateness of use of coronary revascularization procedures. Am Heart J 2000;139:106­13.

20. Lindsay jr. J, Pinnow EE, Pichard AD. Benchmarking operator performance in percutaneous coronary intervention: A novel approach using 3 day events. Cathet Cardiovasc Intervent 2001; 52:139­45.

21. Mannebach H, Hamm C, Horstkotte D. 16. Bericht über die Leistungszahlen der Herzkatheterlabore in der Bundesrepublik Deutschland. Z Kardiol 2000;89:976­84.

22. Rupprecht H-J, Espinola-Klein C, Erbel R, Nafe B, Brennecke R, Dietz U, Meyer J: Impact of routine angiographic follow-up after angioplasty. Am Heart J 1998;136:613­9.

23. Silber S. Mengenzunahme diagnostischer und interventioneller Herzkatheter im krankenhausärztlichen und vertragsärztlichen Bereich in Deutschland. Herz 1999;

24:347­50. 24. Silber S, Albrecht A, Göhring S. Kaltenbach M, Kneissl D, Kokott N, Levenson B, Mathey D, Pöhler E, Reifart N, Sauer G, Schofer J, Schwarzbach F. Erster Jahresbericht niedergelassener Invasivkardiologen in Deutschland ­ Ergebnisse für diagnostische Linksherzkatheteruntersuchungen und Koronarinterventionen 1996. Herz 1998;23:47 ­ 57.

25. Silber S, Levenson B, Schräder R, Kaltenbach M. Zweiter und dritter Jahresbericht des BNK zur Qualitätssicherung in der Invasivkardiologie. Herz 2000;25:143­50.

26. Vereinbarung nach § 137 SGB V über Maßnahmen der Qualitätssicherung bei Fallpauschalen und Sonderentgelten für nach § 108 SGB V zugelassene Krankenhäuser zwischen den Spitzenverbänden der Krankenkassen, der PKV, DKG und BÄK; 2000.

27. Voraussetzungen gemäß §135 Abs. 2 SGB V zur Ausführung und Abrechnung invasiver kardiologischer Leistungen (Vereinbarungen zur invasiven Kardiologie) Dt Ärzteblatt 1999;96:A-2386­A- 2388.



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